MS und Beruf

MS und Beruf

Wenn die ersten Symptome der MS auftreten, ist man in der Regel im so genannten „jungen Erwachsenenalter“, also irgendwas zwischen 20 und 30. Die Zwanziger sind bei vielen genau die Zeit, in der man sich voller Neugier für einen Beruf entscheidet, in der man aufgeregt Bewerbungen verschickt und schweißgebadet in Vorstellungsgesprächen sitzt. Für Menschen mit MS ist es aber auch die Zeit, in der man voller Angst und Ungewissheit nach einem Beruf sucht, der sich mit dieser unberechenbaren Krankheit vereinbaren lässt. Es ist die Zeit, in der man nicht weiß, ob man überhaupt einen Beruf ergreifen kann. Es ist die Zeit, in der man grübelt, ob und wann man dem neuen Arbeitgeber mitteilen soll, dass man eventuell nicht immer ganz so belastbar sein könnte. Es ist die Zeit, in der man sich fragt, ob man es wagen soll, sich den Traum von der Selbstständigkeit zu erfüllen, obwohl man nicht weiß, ob man in ein paar Jahren noch in der Lage sein wird, alle Termine wahrzunehmen, alle Aufträge anzunehmen.

Leider muss jeder für sich selbst die Risiken abwägen, die Pro- und Contra-Listen erstellen, auf seinen Bauch hören und auf die Vernunft. Und jede Geschichte ist anders. Ich erzähle nur meine eigene.

Berufswahl

Als bei mir MS diagnostiziert wurde, war ich mitten im Studium. Meine Idee, nach dem Studium irgendwas Internationales zu machen und durch die Welt zu reisen, passte plötzlich nicht mehr. Auch meine Vorstellung von mir als coole Business-Lady in High Heels verblasste angesichts der wackligen Beine, die ich von Anfang an hatte. Die Krankheit durchkreuzte meinen Weg im wahrsten Sinne des Wortes. Ein pfiffiger Kommilitone prophezeite mir während der Examensklausuren: „Du hast es gut. Erst kriegst Du ne Schreibverlängerung für die Klausuren, und dann wirst Du später auch noch bei der Einstellung bevorzugt. Nur, weil Du behindert bist.“ So einfach sollte es sein. Ich suchte also eine Festanstellung in einer Behörde oder einem großen Unternehmen, wo ich mit meiner neuen nervigen Begleiterin, der MS, tätig sein konnte.

Bewerbung

Schon die Bewerbung entpuppte sich als Herausforderung. Ich stellte mir die Frage, ob ich in meinem Bewerbungsanschreiben angeben sollte, dass ich einen Schwerbehindertenausweis hatte. Einerseits konnte es von Vorteil sein, seinen potentiellen neuen Arbeitgeber über eine bestehende Schwerbehinderung zu informieren. Das 9. Sozialgesetzbuch hält in den §§ 154 ff. nämlich einige Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderung bereit. Alle privaten und öffentlichen Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitsplätzen sind verpflichtet, wenigstens fünf Prozent dieser Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Für jeden nicht mit einem schwerbehinderten Menschen besetzten Pflichtarbeitsplatz muss eine Ausgleichsabgabe gezahlt werden. Hiermit werden die Leistungen der Integrationsämter und der Bundesagentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung schwerbehinderter Menschen gefördert. Die mussten mich also nehmen, dachte ich. Außerdem gilt ein besonderer Kündigungsschutz für schwerbehinderte Mitarbeiter. Jeder kündigungsbedingten Auflösung oder Änderung des Arbeitsverhältnisses muss vorher das Integrationsamt zustimmen. Und schließlich hat man auch noch mehr Urlaubstage als die nicht-behinderten Kollegen.

Das hörte sich wunderbar an – aber wie sah die Realität aus?

Wenn ich Arbeitgeber wäre: was würde ich selbst tun, wenn sich eine junge Frau bei mir bewerben würde, die schwerbehindert ist? Würde ich sie überhaupt zum Vorstellungsgespräch einladen? Und selbst wenn, würde ich sie einstellen? Wenn sie fachlich nicht geeignet wäre, wäre es einfach, sie nicht zu nehmen. Aber was, wenn sie gut ist? Was für eine Schwerbehinderung hat sie genau – ein Rollstuhl oder eine Krücke allein zeigen ja noch nicht, was dahintersteckt. Würde die Mitarbeiterin oft ausfallen, wäre sie häufig krank, wäre sie belastbar, würde sie besondere Unterstützung brauchen? Einen besonderen Stuhl, einen besonderen Schreibtisch, eine besondere Tastatur, einen Parkplatz, mindestens zwei Tage in der Woche Homeoffice, zusätzliche Urlaubstage? Und wenn sie keine gute Arbeit macht, werde ich sie nie mehr los.

Obwohl das möglicherweise die Gedanken waren, die mein aktueller Arbeitgeber sich gemacht hat, als er meine Bewerbung auf dem Tisch hatte, in der ich angegeben hatte, dass ich schwerbehindert bin, lud er mich zum Vorstellungsgespräch ein.

In diesem Gespräch ging es nicht um meine Behinderung. Es ging um mein fachliches Können, meine Herangehensweise an schwierige Fälle, meine kreativen Ideen und meine Vorstellung davon, wie ich mit meinen zukünftigen Kollegen zusammenarbeiten würde.

Ich bekam den Job

Und: Ich falle fast nie aus, bin selten krank, im Rahmen meiner Teilzeittätigkeit belastbar, ich brauche keine Unterstützung, freue mich aber, wenn ein Kollege mir meine Post aus meinem Postfach mitbringt und auf den Tisch legt. Ich habe einen rückenfreundlichen Bürostuhl, einen höhenverstellbaren Schreibtisch, eine ergonomische Tastatur – alles vom Integrationsamt bezuschusst. Ich habe einen Parkplatz, mindestens zwei Tage in der Woche Homeoffice und zusätzliche Urlaubstage. Und ich mache meine Arbeit gut. Es gibt also keinen Grund, mich loswerden zu wollen. Aber mein ehemaliger Kommilitone behielt trotzdem nicht recht. Der Weg zu dieser Jobzusage war überhaupt nicht einfach.

Die vielen Bewerbungsmappen, die ich mit einer freundlichen Absage zurückbekam, die Assessment-Center, durch die ich mich quälte, um am Ende zu hören, dass ich leider nicht geeignet war, sind mir noch gut in Erinnerung. Ich dachte lange Zeit, dass ich nie einen Job finden würde.

Berufsalltag

Die nächsten Hürden kamen, als der Berufsalltag anfing. Neben den ganz normalen Eingewöhnungsproblemen von Berufsanfängern beschäftigten mich noch ganz andere Dinge. Der Weg zur Arbeit, die langen Arbeitstage, der weite Weg zum Kopierer, zur Kantine, die Dienstreisen, die Präsentationen, die alle anderen im Stehen hielten, die Weihnachtsfeiern, bei denen man sich am Glühweinstand traf. Wenn ich morgens aufwachte und erschöpft und müde war, traute ich mich oft nicht, mich krank zu melden, denn „richtig krank“ war ich ja nicht. Das alles war so kräftezehrend und anstrengend. Die Rehas, die ich zwischendurch zum Kraft-Tanken machte, halfen zwar beim Sporteln und Schlafen und Ausruhen von der Arbeit und dem Leben an sich. Da ich dort jedoch vier Wochen „umringt von Kranken“ verbrachte, waren sie leider nicht besonders gut für die Psyche. Ich fragte mich, warum ausgerechnet ich zu diesen Kranken dazugehörte. Erst heute weiß ich, dass es nicht der Berufsalltag selbst ist, der anstrengend ist, sondern der eigene Umgang damit.

Fazit

Wenn ich noch mal 22 wäre und einen Job suchen würde, würde ich deshalb einiges anders machen:
Ich würde weniger Energie darauf verschwenden, Barrieren in meinem konkreten Arbeitsumfeld zu überwinden. Ich würde den Weg zur Arbeit so barrierefrei wie möglich gestalten, ich würde mich von Anfang an für die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, einsetzen. Ich würde mich nicht dafür schämen, dass ich manchmal erschöpft bin. Ich würde nicht an meinen freien Tagen verzweifelt versuchen, etwas „zu leisten“, damit es einen Sinn hat, dass ich nur in Teilzeit arbeite. Ich würde mich an meinen freien Tagen einfach nur ausruhen und den Akku aufladen. Die gewonnene Energie könnte ich dann wunderbar für den eigentlichen Job und mein Leben nach Feierabend nutzen.

Und vor allem würde ich nicht mehr nach einem Job suchen, der zu meiner MS passt. Ich würde einen Job suchen, der zu MIR passt und von dem ich träume. Wenn mein Traumjob dann nicht grade Bergsteiger wäre, bin ich mir sicher, dass ich einen Weg finden würde, ihn auszuüben. Mit all dem habe ich nun zwar erst mit 44 angefangen. Aber besser spät als nie. Und schließlich: alle wichtigen Tipps, die ich in meinem Artikel nicht gegeben habe, findet man in einer Broschüre des Bundesarbeitsministeriums.

Ihre Anna Berkel*

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